Sind drei Physiker in der Irrenanstalt … – Klingt so, als würde man gleich einen Witz hören. Tatsächlich handelt es sich dabei aber um die Ausgangslage in Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Physiker“. Im Verlauf dieses Verwirrspiels ist nicht immer klar, wer verrückt ist und wer nicht. Am Ende des 1962 erstmals in Zürich aufgeführten Theaterstücks wird dem Publikum vor Augen geführt, dass die Welt ins Chaos stürzen kann, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse in die falschen Hände geraten. Kein Witz!
Die Physiker – Zusammenfassung
Im ersten Akt seines Dramas zeigt Dürrenmatt eine Kriminalkomödie um drei Physiker in einer privaten Irrenanstalt. Jeder hat eine Krankenschwester, die ihn liebte, ermordet. Der zunächst forsch auftretende Inspektor resigniert.
Der zweite Akt enthüllt die Wahrheit hinter dem nur gespielten Wahnsinn: Die zwei Physiker behaupten, Newton und Einstein zu sein, sind aber tatsächlich Agenten. Sie wollen dem genialen Physiker Möbius die „Weltformel“, die dieser aufgestellt hat, entreißen.
Die Formel des Physikers Möbius beschreibt ein „System aller möglichen Erfindungen“. Newton und Einstein wollen diese Formel in ihren Besitz bekommen, und zwar zum Nutzen des Staates, für den sie jeweils arbeiten.
Möbius ist allerdings im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte in die Irrenanstalt geflohen, um seine Forschungsergebnisse vor möglichem Missbrauch zu schützen. Er kann die anderen beiden Physiker davon überzeugen, seinem Beispiel zu folgen und zum Wohle der Menschheit im Irrenhaus zu bleiben.
Das planmäßige Handeln Möbius’ erweist sich jedoch als Trugschluss. Die Anstaltsleiterin Dr. Mathilde von Zahnd – als Einzige in diesem Stück wirklich wahnsinnig – weiß schon längst alles. Ihr Konzern nutzt bereits die Formel zur vernichtenden Ausbeutung der Welt. Möbius muss daraufhin erkennen:
Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.
Die Physiker – Kapitelzusammenfassung
Alle Akte der Komödie
Im Folgenden findest du eine Zusammenfassung für jedes einzelne Kapitel / jeden einzelnen Akt der Lektüre. Die Seitenzahlen beziehen sich auf diese Textausgabe: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Diogenes Verlag 1998, Zürich.
Polizeikommissar Richard Voß ermittelt im Mordfall an der Krankenschwester Irene Straub, die von Ernst Heinrich Ernesti alias Einstein getötet worden ist.
Im Gespräch mit dem Inspektor bestreitet Herbert Georg Beutler alias Newton, sein Fall – die Ermordung der Krankenschwester Dorothea Moser vor drei Monaten – sei vergleichbar mit dem Einsteins.
Fräulein Mathilde von Zahnd vermutet hinter dem Irrsinn der Physiker eine radioaktive Vergiftung und verspricht Voß, die Krankenschwestern durch Pfleger austauschen zu lassen.
Frau Rose erscheint in Begleitung ihres neuen Mannes und ihrer drei Söhne im Sanatorium, um sich von ihrem Ex-Ehemann Johann Wilhelm Möbius zu verabschieden. In einem Anfall von Wahnsinn schlägt Möbius die Familie in die Flucht.
Möbius tötet Schwester Monika, nachdem sie ihm gestanden hat, ihn zu lieben, an seine Erscheinungen (König Salomo) zu glauben und mit ihm flüchten zu wollen.
Während sich Polizeikommissar Voß weigert, Möbius zu verhaften, fürchtet Fräulein Mathilde von Zahnd um den Ruf ihrer Klinik.
Der Inspektor kommt Möbiusʾ Wunsch, ihn zu verhaften, nicht nach und verlässt das Sanatorium.
Beim Abendessen offenbaren Newton (Alec Jasper Kilton) und Einstein (Joseph Eisler) ihre wahre Identität und erklären das Motiv für die Morde an den Krankenschwestern. Die beiden Agenten legen ihre Mission im Auftrag des Geheimdienstes ihres Landes offen. Möbius soll entführt werden und als Physiker für das jeweilige Land arbeiten. Möbius überzeugt die beiden, stattdessen mit ihm als vermeintliche Verrückte im Sanatorium zu bleiben.
Fräulein Mathilde von Zahnd erklärt den Physikern, im Besitz von Möbius’ physikalischen Aufzeichnungen zu sein und damit die Welt erobern zu wollen. Die Morde an den Krankenschwestern gingen auf ihr Kalkül zurück.
In Monologen bekennen sich die Physiker zu ihrer Rolle als Newton, Einstein und König Salomo.
Die Interpretation von Friedrich Dürrenmatts
Die Physiker
Wie ist das Drama aufgebaut?
Dürrenmatt betont gleich zu Beginn seiner Regieanweisung, dass er die drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung einhalten will. Süffisant fügt der Autor hinzu: „einer Handlung, die unter Verrückten spielt, kommt nur die klassische Form bei.“
Auffallend sind die inhaltlichen Parallelen der beiden Akte, die jeweils mit der Untersuchung eines Mordfalls an demselben Ort beginnen. Doch während im ersten Akt ein Verwirrspiel vorherrscht, wird der zweite Akt von einem permanenten Rollentausch bestimmt.
I. Akt | II. Akt |
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1. Voß’ Untersuchung des Mords an Irene Straub | 1. Voß’ Untersuchung des Mords an Monika Stettler |
2. Newtons Gespräch mit Voß | 2. Möbius’ Gespräch mit Voß |
3. Frl. von Zahnd: Einfluss der Radioaktivität auf die Physiker ? | 3. Abendessen: Bekenntnisse der Physiker |
4. Möbius und Salomo (Abschied von seiner Familie) | 4. Frl. von Zahnd und Salomo (Trust – Weltherrschaft) |
5. Monika Stettlers Liebe zu Möbius: Möbius’ Mord | 5. Resignation der Physiker; Hinwendung ans Publikum |
⇓ | ⇓ |
Verwirrspiel | Rollentausch |
Worum geht es im Gespräch zwischen den drei Physikern (II,3)?
Bei der Szenenanalyse wird deutlich, dass die drei Physiker für kurze Zeit ihre Masken fallen lassen. Indem sie ihre Identität preisgeben und unterschiedliche Interessen offenlegen, zeigen sie ihr wahres Gesicht. Möbius versucht, die anderen beiden durch eine vernunftgeleitete Argumentation davon zu überzeugen, seinem Beispiel zu folgen. Zum Wohl der Menschheit sollen sie das Opfer bringen, auf ihre Freiheit zu verzichten.
Die Enthüllungsszene mündet schließlich in dem Entschluss, gemeinsam im Irrenhaus zu bleiben. Das feierliche Versprechen, ihr Geheimnis zu wahren, wirkt vor dem Hintergrund ihrer Mordtaten jedoch fadenscheinig. Die Akteure sind keine klassischen Helden, die selbstlos und mutig dem Schicksal trotzen.
Die Interpretation der Szene zeigt: Selbst durch planvolles Handeln können die Physiker dem unberechenbaren Zufall nicht beikommen. Dürrenmatt zufolge gibt es keine höhere Instanz, die ein Opfer annimmt. Der Versuch des Einzelnen, durch seinen Einsatz eine Wendung herbeizuführen, ist deshalb zum Scheitern verurteilt und erweist sich als Illusion.
Wer ist der Wissenschaftler Möbius?
Eine kleine Figurencharakterisitik
Bei der Charakterisierung von Möbius ist entscheidend, dass sich der Wissenschaftler seiner Verantwortung stellt. Möbius erkennt die riesigen Gefahren, die von seinen Forschungen ausgehen. Daraufhin lässt er persönliche Taten folgen, die sein Leben erheblich beeinträchtigen.
Dennoch ist Möbius eine ambivalente und tragische Figur. Um die ganze Menschheit zu schonen, opfert er einzelne Menschen. Er gibt seine Familie auf und ermordet die Krankenschwester Monika Stettler. Dadurch verspielt er erst recht seine persönliche Freiheit.
Am Ende durchkreuzt der plötzlich hereinbrechende Zufall das Bestreben des Physikers, die Welt vor drohendem Unheil zu bewahren. Johann Wilhelm Möbius erkennt nicht, dass ein Einzelner in der heutigen Zeit die Welt nicht mehr verändern kann. Dürrenmatt formuliert dieses Ergebnis in seinen „21 Punkten zu den Physikern“: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ (Punkt 17)
Warum ist Dürrenmatts Die Physiker heute noch aktuell?
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion. Es kam zu einem Wettrüsten zwischen beiden Großmächten. In dieser politisch angespannten Weltlage erschien 1961 Dürrenmatts gesellschaftskritisches Schauspiel „Die Physiker“.
Der erfolgreiche Schweizer Schriftsteller beschäftigte sich darin mit der Frage nach der Verantwortung der modernen Wissenschaft. Er wusste, dass die Entwicklung der Atombombe in den USA nur möglich geworden war, weil willfährige Physiker während des Zweiten Weltkriegs daran mitgearbeitet hatten. Die Forscher hatten ihr Wissen der Regierung und den Militärs zu politischen Zwecken ausgeliefert.
Inwieweit müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler also Verantwortung für ihre Forschung übernehmen? Diese Frage hat seit dem Erscheinen von "Die Physiker" nichts von ihrer Aktualität verloren. Im Jahr 2018 veränderten chinesische Forscher das Erbgut von Zwillingen mittels einer Genschere und begingen damit einen Tabubruch in der Medizin. Der Fall macht deutlich: Gerade im Bereich der Gentechnologie besteht heute ein Risiko. Im Wettlauf um die neuesten Erkenntnisse können Forscherteams dazu geneigt sein, ethisch-moralische Grenzen zu überschreiten.